GOTT INS ZENTRUM STELLEN

Worte von Papst Benedikt XVI. an die Kirche in der Schweiz

Ansprachen von Papst Benedikt XVI

Predigt

Eröffnungsansprache

Abschließende Ansprache

 

Predigt
Kapelle «Redemptoris Mater» Dienstag, 7. November 2006

Liebe Mitbrüder,
die Texte, die wir eben gehört haben – die Lesung, der Antwortpsalm und das Evan-gelium –, haben ein gemeinsames Thema, das man zusammenfassen könnte in dem Satz: Gott scheitert nicht. Oder genauer gesagt: Gott scheitert zunächst immer, er lässt die Freiheit des Menschen stehen, und die sagt immer wieder «nein». Aber Got-tes Phantasie, die schöpferische Kraft seiner Liebe, ist größer als das menschliche Nein. Durch jedes menschliche Nein wird eine neue Dimension seiner Liebe entbun-den und findet er einen neuen, größeren Weg, sein Ja zum Menschen, zu seiner Ge-schichte und zur Schöpfung zu verwirklichen. In dem großen Christushymnus des Philipperbriefes, mit dem wir begonnen haben, hören wir zunächst eine Anspielung auf die Geschichte von Adam, der mit der Freundschaft Gottes nicht zufrieden war; es war ihm zu wenig, er wollte selbst ein Gott sein. Er sah Freundschaft als Abhängigkeit an und hielt sich für einen Gott, wenn er nur in sich selber stand. Darum sagte er «nein», um selber ein Gott zu werden, und stürzte sich gerade so aus seiner Höhe hinab. Gott «scheitert» an Adam – und so scheinbar für die ganze Geschichte. Aber Gott scheitert nicht, denn nun wird er selbst ein Mensch und beginnt das Menschsein neu; pflanzt das Gottsein ins Menschsein unwiderruflich ein und steigt hinunter bis in die letzten Abgründe und Tiefen des Menschseins; erniedrigt sich bis ans Kreuz. Den Stolz überwindet er durch die Demut und den Gehorsam des Kreuzes. Und so geschieht nun, was Jesaja 45 prophezeit hatte. In der Zeit, da Israel im Exil und von der Landkarte verschwunden war, sagte der Prophet voraus, dass die ganze Welt – «jedes Knie» – sich vor diesem ohnmächtigen Gott beugen werde. Und der Philip-perbrief bestätigt uns: Jetzt ist es geschehen. Durch das Kreuz Christi ist Gott zu den Völkern gekommen, aus Israel hinausgegangen, der Gott der Welt geworden. Und nun beugt der Kosmos die Knie vor Jesus Christus, was auch wir heute in wunderba-rer Weise erleben dürfen: In allen Kontinenten, bis in die einfachsten Hütten hinein, ist der Gekreuzigte gegenwärtig. Der Gott, der «gescheitert» war, bringt nun durch seine Liebe den Menschen wirklich dazu, die Knie zu beugen, und überwindet so die Welt mit seiner Liebe.
Als Antwortpsalm haben wir die 2. Hälfte des Passionspsalms 22 [21] gesungen. Es ist der Psalm des leidenden Gerechten, vor allem des leidenden Israel, das vor dem schweigenden Gott, der es verlassen hat, aufschreit: «Mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Wie konntest Du mein vergessen? Nun gibt es mich gleichsam nicht mehr: Du handelst nicht mehr, du sprichst nicht mehr… Warum hast Du mich verlas-sen?» Jesus identifiziert sich mit dem leidenden Israel, mit den leidenden, gottverlas-senen Gerechten aller Zeiten, und er trägt den Schrei der Gottverlassenheit, das Lei-den des Vergessenseins hinauf ans Herz Gottes selbst und wandelt so die Welt um.
Die 2. Hälfte des Psalms, die wir gebetet haben, sagt uns, was daraus hervorgeht: Die Armen essen und werden gesättigt. Es ist die weltweite Eucharistie, die aus dem Kreuz hervorgeht. Nun sättigt Gott weltweit die Menschen, die Armen, die seiner be-dürfen. Er gibt ihnen die Sättigung, die sie brauchen: Gott selbst, sich selbst. Und dann sagt der Psalm: «Alle Enden der Erde werden umkehren zum Herrn.» Aus dem Kreuz entspringt die universale Kirche. Gott geht über das Judentum hinaus und um-fasst die ganze Welt, um sie im Mahl der Armen zu vereinen.
Und schließlich die Botschaft des Evangeliums. Wiederum das Scheitern Gottes. Die Erstgeladenen sagen ab, sie kommen nicht. Der Saal Gottes bleibt leer, sein Mahl scheint umsonst zubereitet. Es ist das, was Jesus in der Schlussphase seines Wirkens erlebt: Die amtlichen, die bestimmenden Kreise Israels sagen «nein» zu der Einla-dung Gottes, die er selber ist. Sie kommen nicht. Seine Botschaft, sein Ruf endet im Nein der Menschen. Und doch auch hier: Gott scheitert nicht. Der leere Saal wird zur Möglichkeit, mehr Menschen zu rufen. Gottes Liebe, Gottes Einladung weitet sich aus – Lukas erzählt sie uns in zwei Wellen: Zuerst ergeht sie an die Armen, die Verlasse-nen, die von niemandem Eingeladenen in der Stadt selber. Gott tut damit das, was wir gestern im Evangelium gehört haben. (Das Evangelium heute gehört ja zu einem kleinen Symposium im Rahmen eines Abendessens bei einem Pharisäer. Wir finden dort vier Texte: zuerst die Heilung des Wassersüchtigen, dann das Wort von den letz-ten Plätzen, dann die Belehrung, nicht die Freunde einzuladen, die dann diese Geste erwidern, sondern diejenigen, die wirklich Hunger haben, aber keine Gegeneinladung verwirklichen können, und dann kommt eben unsere Geschichte.) Gott tut nun das, was er dem Pharisäer gesagt hat: Er lädt die ein, die nichts besitzen; die wirklich Hunger haben, die ihn nicht einladen, ihm nichts geben können. Und dann kommt die zweite Welle. Sie geht vor die Stadt hinaus auf die Straßen; die Unbehausten wer-den geladen. Wir dürfen wohl annehmen, dass Lukas diese zwei Wellen in dem Sinn verstanden hat, dass es zuerst die Armen von Israel sind, die in den Saal kommen und, da sie nicht ausreichen, weil Gottes Raum größer ist, die Einladung aus der Hei-ligen Stadt hinausgeht in die Völkerwelt. Diejenigen, die gar nicht zu Gott gehören, die draußen stehen, werden nun eingeladen, um den Saal zu füllen. Und Lukas, der uns dieses Evangelium überliefert hat, sah sicher darin die bildhaft vorweggenom-mene Darstellung der Ereignisse, die er dann in der Apostelgeschichte erzählt, wo sich genau dies zuträgt: Paulus beginnt seine Mission immer in der Synagoge, bei den Erstgeladenen, und erst, wenn da die Maßgebenden abgesagt haben und nur eine kleine Schar von Armen geblieben ist, geht er hinaus zu den Heiden. So wird das E-vangelium durch diesen immer neuen Kreuzigungsvorgang hindurch universal, er-greift das Ganze, schließlich bis nach Rom. Paulus ruft in Rom die Vorsteher der Syn-agoge zu sich, verkündet ihnen das Geheimnis Jesu Christi, das Reich Gottes in des-sen Person. Aber die maßgebenden Teile sagen ab, und er verabschiedet sie mit den Worten: Nun, da ihr nicht hört, wird diese Botschaft den Heiden verkündet, und sie werden hören. Mit dieser großen Zuversicht endet die Botschaft vom Scheitern: Sie werden hören; die Kirche der Heiden wird sich bilden. Und sie hat sich gebildet und bildet sich noch immer. In den Ad-limina-Besuchen höre ich viel Schweres und Müh-sames, aber immer – gerade aus der Dritten Welt – auch dieses, dass die Menschen hören, dass sie kommen, dass auch heute auf den Straßen an den Enden der Erde die Botschaft ankommt und die Menschen im Gottessaal zu seinem Festmahl zusammen-strömen.
So sollten wir uns fragen: Was bedeutet dies alles für uns? Zuerst einmal die Gewiss-heit: Gott scheitert nicht. Er «scheitert» ständig, aber gerade darum scheitert er nicht, denn er macht daraus neue Möglichkeiten größeren Erbarmens, und seine Phantasie ist unerschöpflich. Er scheitert nicht, weil er immer neue Weisen findet, zu den Menschen zu gehen und sein großes Haus weiter zu öffnen, dass es ganz voll werde. Er scheitert nicht, weil er nicht davor zurückschreckt, die Menschen zu drän-gen, dass sie kommen und sich an seinen Tisch setzen sollen, das Mahl der Armen einzunehmen, in dem die köstliche Gabe, Gott selbst, geschenkt wird. Gott scheitert nicht, auch heute nicht. Selbst, wenn wir so viel Nein erleben, dürfen wir es wissen. Aus dieser ganzen Gottesgeschichte, von Adam an, können wir erkennen: Er scheitert nicht. Auch heute wird er neue Wege finden, Menschen zu rufen, und möchte uns als seine Boten und Diener dabei haben.
Gerade in unserer Zeit kennen wir das Nein-Sagen der Erstgeladenen sehr gut. In der Tat, die westliche Christenheit, die neuen «Erstgeladenen», sagen nun weithin ab, sie haben keine Zeit, zum Herrn zu kommen. Wir kennen die leerer werdenden Kirchen, die leerer werdenden Seminare, die leerer werdenden Ordenhäuser; wir kennen alle die Formen, in denen dieses «Nein, ich habe etwas Wichtiges zu tun» sich darstellt. Und es erschreckt und erschüttert uns, Zeugen dieser Absage der Erstgeladenen zu sein, die eigentlich doch das Große wissen und dorthin drängen müssten. Was sollen wir tun?
Zunächst die Frage: Warum ist es eigentlich so? Der Herr nennt in seinem Gleichnis zwei Gründe: Besitz und menschliche Beziehungen, die die Menschen so in Anspruch nehmen, dass sie eben glauben, nichts anderes mehr zu brauchen, dass ihre Zeit und damit ihre innere Existenz damit ganz ausgefüllt wird. Der hl. Gregor der Große hat in seiner Auslegung dieses Textes noch etwas tiefer einzudringen versucht und ge-fragt: Ja, aber wie ist das möglich, dass der Mensch zu dem Größten «nein» sagt, für das Wichtigste keine Zeit hat, seine Existenz in sich verschließt? Und er antwortet: Sie haben eben nie die Erfahrung Gottes gemacht, sind nie auf den Geschmack Gottes gekommen; sie haben nie gespürt, wie köstlich es ist, von Gott angerührt zu werden! Diese «Berührung» – und damit der «Geschmack an Gott» – fehlt ihnen. Und nur wenn wir es sozusagen schmecken, dann kommen wir auch zum Mahl. Und Gregor zitiert den Psalm, aus dem unser Kommunionvers entnommen ist: Schmeckt und kostet und seht; kostet, dann werdet ihr sehen und erleuchtet werden! Wir müssen helfen, dass die Leute es kosten können, dass sie den Geschmack an Gott wieder spü-ren können. In einer anderen Homilie ist Gregor der Große der gleichen Sache noch weiter auf den Grund gegangen und hat gefragt: Wie kommt es, dass sie nicht wenigs-tens irgendwo es verkosten wollen? Und er sagt: Wenn der Mensch ganz mit seiner eigenen Welt beschäftigt ist, mit den materiellen Dingen, mit dem, was er tun und machen kann, mit allem Machbaren, das ihm Erfolg bringt, das er selber hervorbrin-gen und in sich einbeziehen kann, dann verkümmert seine Empfindungsfähigkeit Gott gegenüber, das Organ für Gott verkümmert und er wird stumpf und unsensibel für ihn. Er spürt das Göttliche nicht mehr, weil das Organ dafür in ihm vertrocknet ist, sich nicht mehr entfaltet hat. Wenn er zu sehr all die anderen Organe gebraucht, die empirischen, dann kann es geschehen, dass eben der Sinn für Gott verflacht, die-ses Organ abstirbt und der Mensch, wie Gregor sagt, das Anschauen, das Ange-schautwerden von Gott nicht mehr empfindet – dieses Kostbare, dass sein Blick mich trifft!
Ich meine, Gregor der Große hat da genau die Situation unserer Zeit geschildert – das war ja damals eine sehr ähnliche Zeit. Und wieder ist die Frage: Was sollen wir tun? Ich glaube, das erste ist das, was uns der Herr heute in der ersten Lesung sagt, was uns Paulus vom Herrn her zuruft: «Habt die Gesinnungen Jesu Christi – Touto phro-neite en hymin ho kai en Christo Iesou!» Lernt denken wie Christus gedacht hat, lernt mit ihm denken! Und dieses Denken ist nicht ein intellektuelles Denken, sondern ist auch ein Denken des Herzens. Die Gesinnungen Jesu Christi lernen wir, wenn wir mit ihm mitdenken lernen und so auch sein Scheitern mitdenken lernen und sein Hin-durchgehen durch das Scheitern, das Größerwerden seiner Liebe im Scheitern. Wenn wir in diese seine Gesinnungen eintreten, anfangen, uns in sie einzuüben, dass wir wie er und mit ihm denken, dann erwacht in uns die Freude an Gott, die Zuversicht, dass er dennoch der Stärkere ist, ja, wir dürfen sagen: die Liebe zu ihm. Wir spüren, wie gut es ist, dass er ist und dass wir ihn kennen dürfen – dass wir ihn im Angesicht Jesu Christi, der für uns gelitten hat, kennen. Ich denke, dies ist das Erste: dass wir selber in lebendige Berührung mit Gott treten – mit dem Herrn Jesus, dem lebendi-gen Gott; dass in uns das Organ für Gott stärker wird, dass wir das Empfinden seiner Köstlichkeit selber in uns tragen. Und das beseelt dann unser Wirken. Denn die Ge-fahr besteht ja auch für uns: Man kann ganz viel tun, Kirchliches tun, alles für Gott tun…, und dabei bleibt man ganz bei sich selber und kommt Gott gar nicht über den Weg. Engagement ersetzt den Glauben, aber dann wird es von innen her leer. Ich glaube, darum sollten wir uns vor allem bemühen: im Hinhören auf den Herrn, im Beten, im inwendigen Mitsein bei den Sakramenten, im Suchen Gottes im Gesicht und im Leiden der Menschen seine Gesinnungen zu erlernen, um von seiner Freude, von seinem Eifer, von seiner Liebe angesteckt zu werden und so mit ihm von ihm her die Welt anzublicken. Wenn uns das gelingt, dann finden wir auch bei allem Nein die Menschen neu, die auf ihn warten, die oft vielleicht abenteuerlich sind – das sagt uns ja das Gleichnis sehr genau – und die doch in seinen Saal hineingerufen sind.
Noch einmal mit anderen Worten: Es geht um die Zentralität Gottes, und zwar nicht irgendeines Gottes, sondern des Gottes mit dem Gesicht Jesu Christi. Das ist heute wichtig. Es gibt so viele Probleme, die man auflisten kann, die alle gelöst werden müssen, die aber alle nicht gelöst werden, wenn nicht im Zentrum Gott steht, neu sichtbar wird in der Welt, maßgebend ist in unserem Leben und durch uns auch maßgebend in die Welt hineintritt. Daran, denke ich, entscheidet sich heute das Ge-schick der Welt in dieser dramatischen Situation: ob Gott da ist – der Gott Jesu Christi – und anerkannt wird, oder ob er verschwindet. Um seine Gegenwart mühen wir uns. Was sollen wir tun? Zuletzt? Wir rufen zu ihm! Wir feiern diese Messe zum Heiligen Geist und bitten ihn: «Lava quod est sordidum, Riga quod est aridum, Sana quod est saucium. Flecte quod est rigidum, Fove quod est frigidum, Rege quod est devium.» Wir bitten ihn, dass er bewässert, dass er wärmt, dass er aufrichtet, dass er selbst mit der Kraft seiner heiligen Flamme uns durchdringt und die Welt erneuert: darum bitten wir ihn in dieser Stunde, in diesen Tagen von ganzem Herzen. Amen.


Eröffnungsansprache

Sala Bologna Dienstag, 7. November 2006

Eminenzen, Exzellenzen, liebe Mitbrüder,
ich möchte Sie zuerst sehr herzlich begrüßen und meine Freude darüber ausdrücken, dass wir den 2005 abgebrochenen Pastoralbesuch nun zu Ende führen dürfen und noch einmal das ganze Panorama der Fragen, die uns bewegen, miteinander durch-arbeiten können. Ich kann mich noch sehr lebhaft an den Ad-limina-Besuch 2005 erinnern, wo wir gemeinsam in der Glaubenskongregation Probleme, die auch in die-sen Tagen wieder zur Debatte stehen werden, besprochen haben, und weiß noch, welch ein Klima des inneren Einsatzes herrschte dafür, dass das Wort des Herrn le-bendig sei und ankomme in den Herzen der Menschen dieser Zeit, damit die Kirche lebe. In der uns gemeinsamen Situation der Bedrängnis durch eine säkulare Kultur versuchen wir, den Auftrag des Herrn zu verstehen und so gut zu erfüllen, wie wir es vermögen.
Ich habe keine richtige Rede vorbereiten können und möchte jetzt nur zu den einzel-nen großen Problemkomplexen, die wir berühren werden, ein paar «erste Vorstöße» machen, die nicht endgültige Aussagen in den Raum stellen, sondern das Gespräch in Gang bringen wollen. Es ist dies ja eine Begegnung zwischen den Schweizer Bischö-fen und den verschiedenen Dikasterien der Kurie, in denen die einzelnen Sektoren unserer pastoralen Aufgabe sichtbar werden und vertreten sind; zu einigen davon möchte ich versuchen, die eine oder andere Anmerkung zu machen. Wie es meiner eigenen Vorgeschichte entspricht, fange ich mit der Glaubenskongregation an, oder besser gesagt: mit dem Thema Glaube. Ich habe schon in der Homilie zu sagen ver-sucht, dass der Glaube in der Tat die Priorität in dem ganzen Ringen dieser unserer Zeit haben muss. Vielleicht konnte er vor zwei Generationen noch als selbstverständ-lich vorausgesetzt werden: Man wuchs im Glauben auf; der Glaube war irgendwie als ein Teil des Lebens einfach gegenwärtig und brauchte gar nicht besonders gesucht zu werden. Er musste geformt, musste vertieft werden, erschien aber wie selbstverständ-lich. Heute ist das Umgekehrte selbstverständlich: dass man eigentlich nicht glauben kann und dass Gott abwesend ist. Jedenfalls erscheint der Glaube der Kirche wie et-was sehr Vergangenes, so dass dann auch aktive Christen es sich so vorstellen, dass man aus dem Gefüge des Glaubens der Kirche sich die Sachen heraussucht, die man als für heute noch vertretbar ansieht. Und vor allen Dingen müht man sich, durch den Einsatz für die Menschen eben auch zugleich sozusagen seine Pflicht Gott gegen-über zu erfüllen. Das ist dann aber doch eine Art «Werkrechtfertigung», die einsetzt: Der Mensch rechtfertigt sich und die Welt, in der er das tut, was offenkundig not-wendig zu sein scheint, aber es fehlt das innere Licht und die Beseelung des Ganzen. Deswegen, glaube ich, ist es wichtig, dass wir einfach wieder sehen: Der Glaube ist die Mitte des Ganzen – «Fides tua te salvum fecit», sagt unser Herr immer wieder zu den Geheilten. Nicht die Berührung, nicht das Äußere ist entscheidend, sondern dass sie geglaubt haben. Und auch wir können nur lebendig dem Herrn dienen, wenn der Glaube stark und in seiner Fülle gegenwärtig wird.
Ich möchte da zwei Eckpunkte unterstreichen. Einerseits: Glaube ist vor allen Dingen Glaube an Gott. Im Christentum geht es nicht um ein riesiges Gepäck von disparaten Sachen, sondern alles, was das Glaubensbekenntnis sagt und was die Glaubensent-wicklung entfaltet hat, ist doch nur da, um uns das Gesicht Gottes deutlicher zu ma-chen. Er ist und er lebt; ihm glauben wir; ihm gegenüber, auf ihn hin, im Mitsein mit ihm und von ihm her leben wir. Und in Jesus Christus ist er sozusagen körperlich mit uns. Diese Zentralität Gottes muss, wie ich meine, in all unserem Denken und Tun ganz neu erscheinen. Das beseelt dann auch die Aktivitäten, die sonst leicht in Akti-vismus verfallen und leer werden können. Das ist das eine: dass der Glaube entschei-dend wirklich auf Gott hinschaut und uns auf Gott hinschauen, auf ihn hin in Bewe-gung kommen lässt.
Das andere ist, dass wir den Glauben nicht uns selbst ausdenken und zusammenset-zen aus Stücken, die man «verkraften» kann, sondern dass wir mitglauben mit der Kirche. Nicht alles können wir verstehen, was die Kirche lehrt, nicht alles muss in jedem Leben gegenwärtig sein. Aber wichtig ist doch, dass wir in dem großen Ich der Kirche, in ihrem lebendigen Wir, Mitglaubende sind und dadurch in der großen Ge-meinschaft des Glaubens stehen, in jenem großen Subjekt, in dem wirklich das Du Gottes und das Ich der Menschen sich anrühren; in dem das Vergangene der Schrift-worte gegenwärtig ist, die Zeiten sich durchdringen, Vergangenheit gegenwärtig ist und sich auf Zukunft öffnet und das Ewige, der Ewige in die Zeit hereinleuchtet. Die-se volle Form des Glaubens, wie das Credo sie ausdrückt, des Glaubens in und mit der Kirche als lebendigem Subjekt, in dem der Herr wirkt, sollten wir versuchen, wirklich als Mitte unserer Aktivitäten hinzustellen. Wir sehen es ja auch heute ganz deutlich: Wo man nur Entwicklung vorangetrieben und der Seele nichts gegeben hat, schadet die Entwicklung. Dann kann man zwar technisch mehr, aber daraus werden vor allem neue Möglichkeiten des Zerstörens. Wenn nicht mit der Entwicklungshilfe, mit dem Lernen all dessen, was der Mensch kann, was sein Verstand erdacht hat und was sein Wille ermöglicht, auch die Seele erleuchtet wird und die Kraft Gottes kommt, dann lernt man vor allem zerstören. Und insofern, glaube ich, muss uns die missionarische Verantwortung neu überkommen, dass, wenn wir selber des Glaubens froh sind, wir uns verpflichtet wissen, anderen davon zu reden. Gottes Sache ist es, wie weit die Menschen dann ihn annehmen können oder nicht.
Von da wollte ich gleich zur «Educazione Cattolica» übergehen und dabei zwei Sekto-ren ansprechen. Das eine, denke ich, was uns allen «Sorge» im guten Sinne macht, ist, dass die theologische Ausbildung der künftigen Priester und anderen den Glau-ben Lehrenden und Verkündenden gut sein sollte, dass wir also gute theologische Fakultäten und Priesterseminare brauchen und entsprechende Lehrer der Theologie, die nicht nur intellektuelle Kenntnisse vermitteln, sondern die einen intelligenten Glauben formen, so dass Glaube Intelligenz und Intelligenz Glaube wird. Da habe ich ein ganz spezifisches Anliegen. Unsere Exegese hat ja große Fortschritte gemacht; wir wissen ungeheuer viel über die Entstehung der Texte, über die Unterteilungen der Quellen usw., was das Wort damals genau gesagt haben kann… Aber wir sehen auch immer mehr, dass die historisch-kritische Exegese, wenn sie nur historisch-kritisch bleibt, das Wort in die Vergangenheit zurückschiebt, es ein Wort im Damals werden lässt, das uns eigentlich gar nicht anredet; und dass sie es fragmentiert, weil es sich ja in lauter verschiedene Quellen auflöst. Das Konzil, Dei Verbum, hat uns gesagt, dass die historisch-kritische Methode eine wesentliche Dimension der Exegese ist, weil es zum Wesen des Glaubens gehört, dass er factum historicum ist. Wir glauben nicht einfach einer Idee; Christentum ist nicht eine Philosophie, sondern ein Ereignis, das Gott in diese Welt gestellt hat, eine Geschichte, die er real als Geschichte mit uns ges-taltet hat und gestaltet. Deswegen muss das Historische in seinem Ernst und An-spruch wirklich auch in unserem Lesen der Bibel da sein: dass wir wirklich das Fak-tum und eben dieses „Geschichte-Machende“ im Wirken Gottes erkennen. Aber Dei Verbum fügt hinzu, dass die Schrift, die demgemäß nach historischen Methoden ge-lesen werden muss, auch als Einheit zu lesen ist und dass sie in der lebendigen Ge-meinschaft der Kirche gelesen werden muss. Diese beiden Dimensionen, die fallen in großen Teilen der Exegese aus. Die Einheit der Schrift ist kein rein historisch-kritisches Faktum, obwohl das Ganze doch auch historisch gesehen ein innerer Pro-zess des Wortes ist, das immer weiter reift, in Relectures immer neu gelesen und ver-standen wird. Aber letztlich ist sie doch theologisches Faktum: Diese Schriften sind eine Schrift, und man versteht sie nur ganz, wenn man sie in der analogia fidei als Einheit liest, in der es vorwärts geht auf Christus hin und Christus umgekehrt die ganze Geschichte an sich zieht, und wenn dies wiederum seine Lebendigkeit hat im Glauben der Kirche. Anders gesagt, mir liegt sehr daran, dass die Theologen die Schrift auch so lieben und lesen lernen, wie das Konzil es wollte nach Dei Verbum: dass sie die innere Einheit der Schrift sehen, wozu heute die «Kanonische Exegese» ja hilft (die freilich immer noch in schüchternen Ansätzen ist) und dann eine geistliche Lesung der Schrift üben, die nicht äußere Erbaulichkeit ist, sondern das innere Ein-treten in die Präsenz des Wortes. Da etwas zu tun, dazu beizutragen, dass neben und mit und in der historisch-kritischen Exegese wirklich Einführung in die lebendige Schrift als heutiges Wort Gottes geschieht, erscheint mir eine sehr wichtige Aufgabe. Wie man das praktisch macht, weiß ich nicht; aber man kann, glaube ich, schon Leh-rer finden, sei es im akademischen Bereich, sei es im Seminar, sei es in einem Einfüh-rungskurs usw., damit diese gegenwärtige Begegnung mit der Schrift stattfindet im Glauben der Kirche, aus der dann erst Verkündigung möglich wird.
Das andere ist die Katechese, die ja in den letzten etwa fünfzig Jahren einerseits me-thodisch große Fortschritte gemacht hat, aber sich doch so sehr ins Anthropologische und in das Studieren der Anknüpfungspunkte hineinverloren hat, dass man oft gar nicht mehr zu den Glaubensinhalten kommt. Ich kann das verstehen: Selbst, als ich Kaplan war – das ist also 56 Jahre her – war es in der pluralistischen Schule mit vie-len ungläubigen Eltern und Kindern schon sehr schwer, dort den Glauben zu verkün-den, weil er als eine total fremde und unwirkliche Welt erschien. Heute ist das natür-lich noch schlimmer. Trotzdem ist es wichtig, dass auch weiterhin in der Katechese, die ja Schule, Pfarrei, Gemeinde usw. umfasst, der Glaube der Kirche wirklich voll zur Geltung kommt und die Kinder wirklich lernen, was das ist: «Schöpfung», was das ist: «Heilsgeschichte», die Gott gemacht hat, was Jesus Christus, wer Jesus Christus ist, was die Sakramente sind, was wir hoffen dürfen… Ich denke, wir müssen uns alle nach wie vor sehr um eine Erneuerung der Katechese mühen, in der der Mut, den eigentlichen Glauben zu bezeugen und Wege zu finden, damit er verstanden und an-genommen wird, ganz grundlegend ist. Denn die religiöse Unwissenheit ist heute er-schreckend groß geworden. Und dabei haben in Deutschland die Kinder alle mindes-tens zehn Jahre Katechese, müssten also doch eigentlich unheimlich viel wissen. So müssen wir gewiss ernstlich darüber nachdenken, wie wir wieder dazu führen kön-nen, dass auch einfach die Kenntnisse vermittelt werden, die Kultur des Glaubens gegenwärtig ist.
Und nun möchte ich zum «Culto divino» kommen. Das Eucharistische Jahr hat uns dafür sehr viel geschenkt. Ich kann sagen, dass die Nachsynodale Instruktion auf gu-tem Wege ist. Sie wird sicher eine große Bereicherung sein. Dann hatten wir das Do-kument der Kult-Kongregation über die rechte Feier der Eucharistie, das sehr wichtig ist. Ich glaube, aus alledem wird allmählich wieder deutlich, dass die Liturgie eben nicht eine «Selbstveranstaltung» der Gemeinde ist, die sich dabei einbringt, wie man so schön sagt, sondern das Heraustreten der Gemeinde aus dem bloßen Selbersein und das Hineintreten in das große Mahl der Armen, in die große, lebendige Gemein-schaft, in der Gott uns selber speist. Dieser universale Charakter der Liturgie muss wieder allen bewusst werden. In der Eucharistie empfangen wir etwas, das wir nicht machen können, sondern treten in ein Größeres hinein, das gerade dann unsrig wird, wenn wir uns in dieses Größere hineingeben und die Liturgie wirklich als Liturgie der Kirche zu feiern versuchen. Damit verbunden ist dann auch das berühmte Problem der Homilie. Rein funktional kann ich das sehr gut verstehen: Vielleicht ist der Pfar-rer müde oder hat schon mehrfach gepredigt, oder er ist alt und kräftemäßig überfor-dert. Wenn dann ein gescheiter Pastoralassistent da ist, der das Wort Gottes sehr gut und überzeugend auslegen kann, sagt man natürlich: Warum soll nicht der Pastoral-assistent sprechen, der kann's besser, und dann haben die Leute mehr davon. Aber das ist eben die rein funktionale Sicht. Dagegen muss man berücksichtigen, dass die Homilie nicht eine Unterbrechung der Liturgie für einen Redeteil ist, sondern dass sie ins sakramentale Geschehen hineingehört und eben das Wort Gottes in die Ge-genwart dieser Gemeinde hineinträgt. Sie ist der Augenblick, wo wirklich das Subjekt dieser Gemeinde angesprochen werden will und zum Hören und zum Annehmen ge-bracht werden soll; das heißt, sie ist selbst Teil des Mysteriums, der Mysterienfeier, und daher nicht einfach aus ihr herauszulösen. Vor allen Dingen aber ist mir auch wichtig, dass der Priester nicht sozusagen auf das Sakrament und auf die Jurisdiktion beschränkt wird, in der Überzeugung, alle anderen Aufgaben könnten auch andere übernehmen, sondern dass die Integralität seines Auftrags bleibt. Nur dann ist Pries-tertum auch schön, wenn es da einen Auftrag zu erfüllen gilt, der eine Ganzheit ist, an dem man nicht einfach herumschneiden kann. Und zu diesem Auftrag gehört immer schon – auch im alttestamentlichen Kult – die Pflicht des Priesters, mit dem Opfer das Wort zu verbinden, das wesentlicher Bestandteil des Ganzen ist. Rein praktisch müssen wir dann natürlich dafür sorgen, den Priestern die nötigen Hilfen zu geben, damit sie auch den Dienst des Wortes recht tun können. Grundsätzlich ist diese inne-re Einheit sowohl des Wesens der Eucharistiefeier wie auch des Wesens des priester-lichen Dienstes ganz wichtig.
Das zweite Thema, das ich in diesem Zusammenhang ansprechen möchte, betrifft das Sakrament der Versöhnung, das ja in den letzten etwa 50 Jahren immer mehr ver-kümmert ist. Gott sei Dank gibt es Klöster, Abteien und Wallfahrtsorte, zu denen die Menschen pilgern und wo sich ihr Herz öffnet und auch bereit ist zum Bekenntnis. Dieses Sakrament müssen wir wirklich neu erlernen. Schon unter einem rein anthro-pologischen Gesichtspunkt ist es wichtig, einerseits Schuld zu erkennen und anderer-seits Vergebung zu üben. Eine der bedenklichen Erscheinungen unserer Zeit ist ein weit verbreitetes Ausfallen des Sündenbewusstseins. So besteht das Geschenk des Bußsakramentes nicht nur darin, dass wir Vergebung erhalten, sondern darin, dass wir zunächst einmal überhaupt unsere Vergebungsbedürftigkeit bemerken und da-durch schon gereinigt werden, uns innerlich verändern und dann auch andere besser verstehen und ihnen vergeben können. Die Erkenntnis von Schuld ist elementar für den Menschen – er ist krank, wenn er sie nicht mehr erkennt –, und ebenso wichtig ist für ihn die befreiende Erfahrung, Vergebung zu empfangen. Für beides ist das Sakrament der Versöhnung der entscheidende Einübungsort. Darüber hinaus wird der Glaube dort ganz persönlich und verbirgt sich nicht mehr im Kollektiv. Wenn der Mensch sich der Herausforderung stellt und in seiner Lage der Vergebungsbedürftig-keit gleichsam «schutzlos» vor Gott tritt, macht er die ergreifende Erfahrung einer ganz persönlichen Begegnung mit der Liebe Jesu Christi.
Zum Schluss möchte ich noch auf das Bischofsamt eingehen. Darüber haben wir ja implizit schon die ganze Zeit gesprochen. Es scheint mir wichtig, dass die Bischöfe als Nachfolger der Apostel einerseits wirklich die Verantwortung für die Ortskirchen tra-gen, die der Herr ihnen anvertraut, und dafür sorgen, dass dort die Kirche als Kirche Jesu Christi wächst und lebt. Andererseits müssen sie die Lokalkirchen ins Universa-le hinein öffnen. Wir merken an den Nöten der Orthodoxie mit den Autokephalien wie auch an den Problemen unserer protestantischen Freunde angesichts des Zerfalls der Landeskirchen, welch große Bedeutung der Universalität zukommt, wie wichtig es ist, dass die Kirche sich ins Ganze hinein öffnet und in der Universalität wirklich eine Kirche wird. Das kann sie andererseits aber nur, wenn sie am Ort lebendig ist. Dieses Miteinander muss in bewusster Nachfolge des Apostelkollegiums von den Bi-schöfen gemeinsam mit dem Nachfolger Petri getragen werden. Wir alle müssen uns ständig bemühen, in dieser Wechselbeziehung das rechte Gleichgewicht zu finden, so dass die Lokalkirche ihre Authentizität lebt und zugleich die Universalkirche davon immer wieder empfängt, damit beide geben und empfangen und so die eine Kirche des Herrn wächst.
Bischof Grab hat schon von den Mühsalen des Ökumenismus gesprochen; den brau-che ich Ihnen allen nur einfach ans Herz zu legen. In der Schweiz sind Sie ja tagtäg-lich mit dieser Aufgabe konfrontiert, die uns mühsam ist, aber auch freut. Ich glaube, das Wichtige sind zum einen die persönlichen Beziehungen, in denen wir uns als Glaubende unmittelbar kennen und gegenseitig schätzen lernen und als spirituelle Menschen einander auch reinigen und helfen. Zum anderen geht es, wie Bischof Grab schon gesagt hat, um das Einstehen für die von Gott her kommenden, wesentlichen, tragenden Werte unserer Gesellschaft. Da haben wir alle zusammen – Protestanten, Katholiken und Orthodoxe – eine große Aufgabe. Und ich bin froh, dass das Bewusst-sein dafür auch wächst. Im Osten ist es die Kirche in Griechenland, die, obwohl sie sich mit den Lateinern gelegentlich schwertut, doch immer deutlicher sagt: In Europa können wir unsere Aufgabe nur wahrnehmen, wenn wir uns gemeinsam für das große christliche Erbe einsetzen. Auch die Kirche in Russland sieht dies immer mehr, und ebenso sind sich unsere protestantischen Freunde dessen bewusst. Ich meine, wenn wir lernen, auf diesem Gebiet miteinander zu handeln, dann können wir selbst da ein gutes Stück Einheit verwirklichen, wo die volle theologische, sakramentale Einheit noch nicht möglich ist.
Abschließend möchte ich Ihnen noch einmal meine Freude über Ihren Besuch aus-drücken und Ihnen in diesen Tagen viele fruchtbare Gespräche wünschen.


Abschließende Ansprache
Donnerstag, 9. November 2006

Ich möchte in erster Linie allen für diese Begegnung danken, die mir sehr wichtig zu sein scheint als Ausdruck der kollegialen Zuneigung und als Zeichen unserer gemein-samen Verantwortung für die Kirche und für das Evangelium in der heutigen Welt. Danke für alles! Es tut mir leid, dass ich aufgrund anderer Verpflichtungen, vor allem wegen Ad-limina-Besuchen (in diesen Tagen sind die deutschen Bischöfe an der Rei-he), nicht bei euch sein konnte. Ich hätte wirklich den Wunsch gehabt, die Stimme der Schweizer Bischöfe zu hören, aber es werden sich vielleicht noch weitere Gele-genheiten bieten, und natürlich auch das Gespräch zwischen der Römischen Kurie und den Schweizer Bischöfen zu verfolgen: In der Römischen Kurie spricht immer auch der Heilige Vater in seiner Verantwortung gegenüber der ganzen Kirche. Ich danke euch daher für diese Begegnung, die – wie mir scheint – uns allen hilft, da sie für alle eine Erfahrung der Einheit der Kirche ist und auch eine Erfahrung der Hoff-nung, die uns in allen Schwierigkeiten, von denen wir umgeben sind, begleitet. Ich möchte auch um Entschuldigung dafür bitten, dass ich bereits am ersten Tag ohne einen vorher geschriebenen Text gekommen bin; ein bisschen hatte ich natürlich be-reits nachgedacht, aber ich hatte keine Zeit zum Schreiben gefunden. Und so komme ich auch jetzt mit dieser Armut; aber vielleicht ist in jeder Hinsicht arm zu sein in diesem Moment der Kirchengeschichte auch für einen Papst besser. Auf jeden Fall kann ich jetzt keine große Ansprache halten, wie es eigentlich richtig wäre nach einer Begegnung, die diese Früchte getragen hat. Ich muss nämlich sagen, dass ich die Zu-sammenfassung eurer Gespräche bereits gelesen hatte, und jetzt habe ich sie mit gro-ßer Aufmerksamkeit angehört: Es scheint mir ein sehr gut abgewägter und reicher Text zu sein, der wirklich auf die wesentlichen Fragen antwortet, die uns sowohl im Hinblick auf die Einheit der Kirche in ihrer Gesamtheit als auch im Hinblick auf die spezifischen Fragen der Kirche in der Schweiz beschäftigen. Es scheint mir, dass die-ser Text wirklich den Weg für die nächsten Jahre vorzeichnet und unseren gemein-samen Willen aufzeigt, dem Herrn zu dienen. Ein sehr reicher Text. Als ich ihn las, dachte ich: Es wäre ein bisschen widersinnig, wenn ich jetzt anfinge, noch einmal ü-ber diese Themen zu sprechen, die drei Tage lang tiefgehend und intensiv besprochen worden sind. Ich sehe hier das zusammengefasste und reiche Ergebnis der Arbeit, die getan wurde; noch etwas zu den einzelnen Punkten hinzuzufügen erscheint mir sehr schwierig, auch weil ich zwar das Ergebnis der Arbeit kenne, aber nicht das, was die Gesprächsteilnehmer im einzelnen persönlich gesagt haben. Daher habe ich gedacht, dass es vielleicht richtig ist, heute nachmittag beim Abschluss noch einmal auf die großen Themen zurückzukommen, die uns beschäftigen und die letztlich die Grund-lage aller Einzelheiten sind – auch wenn jede Einzelheit natürlich wichtig ist. In der Kirche ist es nicht so, dass die Institution nur eine äußere Struktur und das Evangeli-um dagegen nur rein geistlich wäre. In Wirklichkeit sind Evangelium und Institution nicht voneinander zu trennen, weil das Evangelium einen Leib besitzt, weil der Herr in dieser unserer Zeit einen Leib besitzt. Daher sind die Fragen, die auf den ersten Blick fast nur institutionelle Fragen zu sein scheinen, in Wirklichkeit theologische und zentrale Fragen, weil es sich dabei um die Verwirklichung und die konkrete Um-setzung des Evangeliums in unserer Zeit handelt. Daher ist es jetzt das Richtige, noch einmal die großen Perspektiven hervorzuheben, innerhalb derer sich unsere ganze Reflexion bewegt. Ich gestatte mir – mit der Nachsicht und der Großherzigkeit der Mitglieder der Römischen Kurie –, zur deutschen Sprache zurückzukehren, weil wir sehr gute Übersetzer haben, die sonst unbeschäftigt bleiben würden. Ich habe an zwei bestimmte Themen gedacht, über die ich bereits gesprochen habe und die ich jetzt weiter vertiefen möchte.
Noch einmal also das Thema «Gott». Mir ist das Wort des hl. Ignatius eingefallen: «Christentum ist nicht eine Sache der Überredung, sondern der Größe» (Brief an die Römer, 3,3). Wir sollten uns unseren Glauben nicht durch vielfältige Einzelheiten zerreden lassen, sondern doch zu allererst seine Größe immer wieder vor Augen ha-ben. Ich kann mich erinnern: Wenn ich in den achtziger, neunziger Jahren nach Deutschland kam, wurde ich um Interviews gebeten, und ich wusste immer schon im voraus die Fragen. Es ging um Frauenordination, um Empfängnisverhütung, um Ab-treibung und um ähnliche Probleme, die ständig wiederkehren. Wenn wir uns ein-fangen lassen in diese Diskussionen, dann fixiert man die Kirche auf ein paar Ge- o-der Verbote, wir stehen da als Moralisten mit ein paar etwas altmodischen Ansichten, und die eigentliche Größe des Glaubens erscheint gar nicht. Daher meine ich, diese Größe unseres Glaubens immer wieder herauszustellen, ist etwas ganz Grundlegen-des, wovon wir uns durch solche Situationen nicht abbringen lassen dürfen.
Unter diesem Aspekt möchte ich nun unsere Überlegungen vom vorigen Dienstag ergänzend fortsetzen und noch einmal betonen: Wichtig ist vor allem, die persönliche Beziehung zu Gott zu pflegen, zu dem Gott, der sich uns in Christus gezeigt hat. Au-gustinus hat wiederholt die zwei Seiten des christlichen Gottesbegriffes unterstri-chen: Gott ist Logos, und Gott ist Amor – bis dahin, dass er ganz klein wird, einen menschlichen Leib annimmt und sich schließlich als Brot in unsere Hände gibt. Und diese beiden Seiten des christlichen Gottesbegriffes sollten wir immer gegenwärtig halten und gegenwärtig machen. Gott ist Spiritus Creator, ist Logos, ist Vernunft. Und daher ist unser Glaube etwas, das mit Vernunft zu tun hat und durch Vernunft weitergegeben werden kann und sich nicht vor der Vernunft auch dieser unserer Zeit zu verstecken braucht. Aber diese ewige, unermessliche Vernunft ist eben nicht nur Mathematik des Alls und noch weniger irgendeine prima causa, die den Big Bang ausgelöst und sich dann zurückgezogen hat, sondern diese Vernunft hat ein Herz, so sehr, dass sie auf ihre Unermesslichkeit verzichten kann und Fleisch annimmt. Und erst darin, meine ich, liegt die letzte und eigentliche Größe unseres Gottesbegriffs. Wir wissen: Gott ist nicht eine philosophische Hypothese, nicht etwas, das es viel-leicht gibt, sondern wir kennen ihn, und er kennt uns. Und wir können ihn immer genauer kennen, wenn wir im Gespräch mit ihm stehen.
Deshalb ist es eine Grundaufgabe der Pastoral, beten zu lehren und es selber immer mehr zu lernen. Schulen des Gebets, Gebetskreise, gibt es heutzutage; man sieht, dass Menschen das wollen. Viele suchen Meditation irgendwo anders, weil sie die spiritu-elle Dimension im Christentum nicht zu finden glauben. Wir müssen ihnen wieder zeigen, dass es diese spirituelle Dimension nicht nur gibt, sondern dass sie die Quelle von allem ist. Dazu müssen wir vermehrt solche Schulen des Gebetes, des Miteinan-der-Betens, bilden, wo man das persönliche Beten in all seinen Dimensionen lernen kann: als schweigendes Hinhören auf Gott, als Hineinhören in sein Wort, in sein Schweigen, in sein Tun in der Geschichte und an mir; auch seine Sprache in meinem Leben verstehen und dann antworten lernen im Mitbeten mit den großen Gebeten der Psalmen des Alten und des Neuen Testaments. Wir haben selber nicht die Worte für Gott, aber Worte sind uns geschenkt: Der Heilige Geist hat selber für uns schon Gebetsworte geformt; wir können hineintreten, mitbeten und darin dann auch das persönliche Beten lernen, Gott immer mehr «erlernen» und so Gottes gewiss werden, auch wenn er schweigt – Gottes froh werden. Dieses innere Sein bei Gott und da-durch Erfahren der Gegenwart Gottes ist das, was sozusagen immer wieder die Größe des Christentums spüren lässt und uns dann auch durch all das Kleine hindurchhilft, in dem es freilich gelebt und Tag um Tag leidend und liebend, in Freude und Trauer, Wirklichkeit werden muss.
Und von da aus – denke ich – ist dann die Bedeutung der Liturgie zu sehen, eben auch als Schule des Betens, in der der Herr selbst uns beten lehrt, in der wir mit der Kirche beten, sowohl in der einfachen, demütigen Feier, in der nur ein paar Gläubige sind, als auch im Fest des Glaubens. Ich habe das gerade jetzt in den verschiedenen Gesprächen wieder wahrgenommen, wie sehr für die Gläubigen einerseits die Stille in der Berührung mit Gott wichtig ist und andererseits das Fest des Glaubens, Fest erle-ben zu können. Die Welt hat auch ihre Feste. Nietzsche hat sogar gesagt: Nur wenn es Gott nicht gibt, können wir ein Fest feiern. Aber das ist Unsinn: Nur wenn es Gott gibt und er uns anrührt, kann es ein wirkliches Fest geben. Und wir wissen ja, wie diese Feste des Glaubens doch den Menschen dann das Herz aufreißen und Eindrü-cke schaffen, die ihnen weiterhelfen. Ich habe es bei den Pastoralbesuchen in Deutschland, in Polen, in Spanien wieder erfahren, dass da Glaube als Fest erlebt wird und dann den Menschen wieder nachgeht und sie führt.
Und noch etwas möchte ich in dem Zusammenhang erwähnen, das mir sehr aufgefal-len ist, und das mich nachhaltig beeindruckt hat. In dem letzten, Fragment gebliebe-nen Werk des hl. Thomas von Aquin, dem Compendium Theologiae, das er ja einfach aufbauen wollte nach den drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe, hat-te der große Kirchenlehrer das Kapitel Hoffnung noch angefangen und ein Stück weit ausgeführt. Und dort hat er Hoffnung und Gebet sozusagen miteinander identifiziert: Das Kapitel über die Hoffnung ist zugleich das Kapitel über das Gebet. Das Gebet ist Hoffnung in Akt. Und in der Tat, im Gebet öffnet sich der eigentliche Grund, warum wir hoffen dürfen: Wir können mit dem Herrn der Welt in Berührung treten, er hört uns zu, und wir können ihm zuhören. Das ist es, was der hl. Ignatius meinte, und was ich Ihnen heute noch einmal ins Gedächtnis rufen wollte: Ou peismones to ergon, alla megethous estin ho Christianismos (Röm 3,3) – das eigentlich Große des Christen-tums, das uns nicht dispensiert vom Kleinen und Alltäglichen, das aber auch davon nicht verdeckt werden darf, ist diese Möglichkeit, mit Gott in Berührung zu treten.
Das Zweite, was mir gerade in diesen Tagen wieder in den Sinn gekommen ist, be-trifft die Moral. Ich höre oft, dass eine Sehnsucht nach Gott, nach Spiritualität, nach Religion bei den Menschen durchaus vorhanden ist und dass man auch wieder an-fängt, die Kirche als einen möglichen Ansprechpartner anzusehen, wo man in dieser Hinsicht etwas empfangen kann. (Es gab ja eine Zeit, da man eigentlich nur noch bei anderen Religionen suchte.) Das Bewusstsein wächst wieder: Die Kirche ist ein gro-ßer Träger spiritueller Erfahrung und gleichsam ein Baum, in dem Vögel nisten kön-nen, auch wenn sie dann wieder wegfliegen wollen – aber eben doch ein Ort, an dem man sich einmal niederlassen kann für eine Weile. Was dagegen den Menschen sehr schwerfällt, ist die Moral, die die Kirche verkündet. Darüber habe ich nachgedacht – denke auch schon lange darüber nach –, und mir fällt immer mehr auf, dass in unse-rer Zeit die Moral sich gleichsam in zwei Hälften geteilt hat. Die gegenwärtige Gesell-schaft ist nicht einfach «moral-los», aber sie hat einen anderen Teil der Moral sozu-sagen «entdeckt» und nimmt ihn in Anspruch, der vielleicht in unserer kirchlichen Verkündigung in den letzten Jahrzehnten und auch schon länger nicht genügend zur Sprache kam. Es sind die großen Themen «Friede», «Gewaltlosigkeit», «Gerechtig-keit für alle», «Sorge um die Armen», «Ehrfurcht vor der Schöpfung». Das ist zu ei-nem Ensemble von Moral geworden, das gerade als politische Kraft auch sehr mäch-tig ist und für viele eigentlich den Ersatz oder die Nachfolge der Religion darstellt. An die Stelle der Religion, die als Metaphysik und jenseitig gilt – und individualistisch vielleicht – treten die großen moralischen Themen als das Eigentliche, das dem Men-schen dann Würde gibt und ihn auch fordert. Das ist die eine Seite, dass es also diese Moralität gibt, die auch junge Menschen begeistert, die sich für Frieden einsetzen, für Gewaltlosigkeit, für Gerechtigkeit, für die Armen, für die Schöpfung. Und es sind ja auch wirklich große moralische Themen, die gerade auch der kirchlichen Tradition zugehören. Die Instrumente, die man dafür anbietet, sind dann oft sehr parteilich und nicht immer glaubwürdig, aber darauf muss hier nicht eingegangen werden. Die großen Themen stehen im Raum.
Die andere Hälfte der Moral, die oft sehr kontrovers von der Politik aufgegriffen wird, ist die Moral des Lebens. Dazu gehört der Einsatz für das Leben von der Empfängnis bis zum Tod, das heißt seine Verteidigung gegen die Abtreibung, gegen die Euthana-sie, gegen die Manipulation und gegen die Selbstermächtigung des Menschen, über das Leben zu verfügen. Häufig wird versucht, diese Eingriffe mit den scheinbar gro-ßen Zwecken zu rechtfertigen, späteren Generationen damit dienen zu können, so-dass auch dies, das Leben des Menschen selbst zu manipulieren und in die Hand zu nehmen, wieder geradezu moralisch erscheint. Aber auf der anderen Seite gibt es ja das Bewusstsein, dass das menschliche Leben ein Geschenk ist, das unsere Ehrfurcht und unsere Liebe vom ersten bis zum letzten Augenblick verlangt, auch für die Lei-denden, die Behinderten und die Schwachen. Im Zusammenhang damit steht dann auch die Moral von Ehe und Familie. Die Ehe wird sozusagen immer mehr marginali-siert. Wir kennen ja das Beispiel aus einigen Ländern, wo eine Gesetzesänderung vorgenommen wurde, durch die nun die Ehe nicht mehr definiert wird als Verbin-dung zwischen Mann und Frau, sondern als eine Verbindung zwischen Personen, womit natürlich die Grundidee zerstört ist und die Gesellschaft von ihren Wurzeln her zu etwas ganz anderem wird. Dass Sexualität, Eros und Ehe als Einswerden von Mann und Frau zueinander gehören – «Sie werden ein Fleisch sein», sagt der Schöp-fungsbericht – dieses Bewusstsein schwindet immer mehr; alle Arten von Verbin-dungen erscheinen als ganz normal, wiederum als eine Art Moralität der Nicht-Diskrimination und als eine Art von Freiheit, die dem Menschen geschuldet ist. Da-mit ist natürlich die Unauflöslichkeit der Ehe fast zu einer utopischen Idee geworden, die gerade auch bei vielen Persönlichkeiten, die wir in der Öffentlichkeit sehen, de-mentiert erscheint. So zerbröckelt auch die Familie in zunehmendem Maße. Natür-lich gibt es für das Problem, dass die Geburtenrate so stark zurückgeht, vielerlei Gründe, sicher spielt dabei aber auch eine entscheidende Rolle, dass man das Leben für sich selber haben möchte, dass man der Zukunft wenig traut und dass man eben die Familie als eine beständige Gemeinschaft, in der dann auch die nächste Generati-on heranwachsen kann, kaum noch für realisierbar hält.
In diesen Bereichen also stößt unsere Verkündigung auf ein gegenläufiges Gesell-schaftsbewusstsein und sozusagen auf eine Art Gegenmoralität, die sich auf einen Begriff der Freiheit als des Allein-selber-wählen-Könnens und der Nicht-Diskrimination, also der Zulassung aller Arten von Möglichkeiten stützt und sich da-mit auch selber für moralisch hält. Doch das andere Bewusstsein ist ja nicht ausge-storben. Es ist da, und ich denke, wir müssen uns darum mühen, die beiden Hälften der Moral wieder zusammenzubringen und deutlich zu machen, dass sie untrennbar zueinander gehören. Nur wenn das menschliche Leben von der Empfängnis bis zum Tod geachtet wird, ist auch die Friedensethik möglich und glaubhaft; nur dann kann die Gewaltlosigkeit ganzheitlich werden, nur dann nehmen wir die Schöpfung wirk-lich an und nur dann kann es zu wahrer Gerechtigkeit kommen. Ich denke, da haben wir eine ganz große Aufgabe vor uns: einerseits Christentum nicht als bloßen Mora-lismus erscheinen zu lassen, sondern als Gabe, in der sich uns die Liebe schenkt, die uns trägt und die uns dann die Kraft des Sich-Verlierens gibt; und andererseits in diesem großen Kontext der geschenkten Liebe dann auch zu den Konkretisationen schreiten, deren Grundlage uns immer noch der Dekalog anbietet, den wir mit Chris-tus, mit der Kirche in dieser Zeit weiterlesen und neu lesen müssen.
Das waren also die zwei Themen, die ich glaubte, hinzufügen zu sollen oder zu dür-fen. Danke für Ihre Nachsicht und für Ihre Geduld. Hoffen wir, dass der Herr uns allen hilft auf unserem Weg!